9.
Jun
07

Neuer alter Feind?

von Ben

Am 06.06. erschien im Guardian-Blog ein Artikel über das Verhältnis des Westens im Allgemeinen und der USA im Besonderen zu Russland. Simon Jenkins stellt darin die These auf, die USA unterschätzten die mögliche Gefahr, die von Russland ausgeht. Seiner Ansicht nach verzetteln sich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in einem unnötigen “War on Terrorism”, statt sich um die Ambitionen Russlands zu kümmern. Zudem schätzten sie die Psyche Russlands falsch ein - so sie sich überhaupt darum kümmern - und statt Russland als Verbündeten zu gewinnen unternähmen sie alles, um sich Russland als Gegner zu erhalten. Er vergleicht dabei die Fehleinschätzung Russlands durch die politische Führung der USA mit der fehlerhaften Einschätzung Deutschlands durch die Sieger 1919. Jenkins sieht durch dieses Verhalten die Gefahr eines “kalten Friedens” oder sogar eines Krieges heraufziehen.

Hat Jenkins recht? Auf jeden Fall hat er recht mit seiner Einschätzung der amerikanischen Politik. Während Bush die militärische Schlagkraft der USA und den Staatshaushalt in mittlerweile zwei absurden und völlig unnötigen Kriegen ruiniert und damit sämtlichen moralische Kredit der USA verspielt, glaubt man in Washington offenbar immernoch, Russland nicht ernst nehmen zu müssen.

Dennoch stellt sich natürlich die Frage, ob der Vergleich mit 1919 angemessen ist. 1919 lag das deutsche Reich politisch und militärisch am Boden. Zur Verteidigung gegen Feinde von außen oder innen nicht mehr in der Lage schwebte es ständig am Rande eines Bürgerkriegs. Die Reichsregierung konnte sich nur halten, indem sie einen Pakt mit den reaktionären Kräften der Gesellschaft schloss, sei es, dass politisch rechtsstehende Freikorps den Spartakusaufstand niederschlugen, sei es, dass monarchistische Beamte im Dienst verblieben, ohne sich jemals zur Demokratie bekennen zu müssen. Diese allgemeine Schwäche nutzten die Sieger des ersten Weltkrieges, um die Gefahr, die von Deutschland ausging wie sie meinten ein für allemal zu bannen. Das Deutsche Reich wurde wirtschaftlich durch riesige Reparationszahlungen gefesselt, musste die Schuld am Ausbruch des Krieges auf sich und den Verlust sämtlicher Kolonien und eines Teils des Reichsgebiets hinnehmen und wurde militärisch in die zweite Reihe verbannt. Diese Demütigung nationalen Stolzes, diese Zementierung der wirtschaftlichen und politischen Instabilität, diese Verletzung des deutschen Rechtsbewusstseins führten direkt in das dritte Reich und die Katastrophe des zweiten Weltkriegs.

Russland lag 1919 militärisch und wirtschaftlich am Boden. Seine Armee war technisch veraltet, schlecht versorgt und durch die Niederlage in Afghanistan demoralisiert. Wirtschaftlich befand sich Russland auf dem Stand eines Entwicklungslands. Das russische Imperium, das die UdSSR faktisch gewesen war, brach auseinander. In seiner politischen Bedeutung wurde die einstige Großmacht marginalisiert. Russland war eine Atommacht, für die sich niemand mehr interessierte. Die Verletzung des russischen Stolzes, die damit einherging sollte von niemandem unterschätzt werden.

1933 verließ das Deutsche Reich den Völkerbund und die Abrüstungskonferenz. Damit begann die faktische einseitige Aufhebung des Versailler Vertrages mit all seinen militärischen Restriktionen. Sechs Jahre später griff das Deutsche Reich Polen an. Im Frühjahr 2007 demonstriert Russland eindrucksvoll die europäische Abhängigkeit von russischem Gas und am 04.06.2007 kündigt Russland an, im Falle eines Festhaltens der USA an ihren Plänen, einen Raketenschild in Osteuropa zu instalieren, seine Waffen auf westeuropäische Ziele auszurichten. Wie das Deutsche Reich 1933 meldet sich Russland 2007 mit einem Paukenschlag im Konzert der Mächtigen zurück.

Die Parallele zu 1919 ist also völlig gerechtfertigt. In blinder Ingnoranz glaubten in beiden Fällen die maßgeblichen Politiker, die vorübergehende Schwäche eines Riesen kennzeichne seinen Todeskampf. Dass sich der Riese erholt hat haben sie zu spät erkannt.

Droht nun in Europa ein neues Wettrüsten? Droht womöglich ein neuer Krieg? Über eines sollten sich die USA klar sein: die strategischen Herausforderungen liegen in Russland und China, nicht im Mittleren Osten. Es ist an der Zeit, Russland in eine langfristige Partnerschaft aktiv einzubinden, statt lediglich passiv die immer weiter fortschreitende Demontage der Demokratie zu dulden. Das Deutsche Reich hat 1939 versucht, ein Großreich zu errichten. Vielleicht will Russland in naher Zukunft ebenfalls sein Reich wiederhaben.

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