Marxistische Wissenschaft?
Mir fiel letzthin ein Buch über die Reichswehr in der Weimarer Republik (Karl Nuß, Militär und Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik, Berlin, 1977) in die Hand, dessen vornehmlicher Wert allerdings nicht in seiner Darstellung der Reichswehr sondern eher in seinem Quellencharakter liegt: Bereits auf der ersten Seite des Vorwortes entlarvt der Autor bereits die verquere Weltsicht dessen, was einst als marxistische Geschichts“wissenschaft“ galt. So schreibt er:
dass jene Verschwörung… die später zum zweiten Weltkrieg und zum verbrecherischen überfall Hitlerdeutschlands auf den ersten sozialistischen Staat der Erde führte…
Es ist mir dabei völlig gleich, ob Faschismus und Krieg die notwendigen Konsequenzen aus Monopolkapitalismus und Krieg sind, aber man beachte die Reihenfolge. Nicht nur, dass der überfall auf die Sowjetunion aus dem Gesamtzusammenhang des zweiten Weltkrieges herausgelöst und faktisch dem zweiten Weltkrieg als qualitativ gleichwertig beigestellt wird, nein, die Nennung des überfalls auf die Sowjetunion an zweiter Stelle impliziert auch noch die größere moralische Verwerflichkeit dieses Vorgangs. Die Aufzählung von Nuß könnte genauso gut heißen “… nicht nur zum Zweiten Weltkrieg, sondern sogar zum überfall…”. Deutlicher kann man den Kotau vor der UdSSR kaum vollziehen. Aber es geht noch weiter:
Aggressionspolitik und Kriegsgefahr sind dem Imperialismus wesenseigen; die Bedrohung der Menschheit durch sie hört erst auf, wenn es keine Ausbeuterklassen mehr gibt.
Also die klassenlose Gesellschaft verhindert Aggressionskriege? Und die UdSSR war eine klassenlose Gesellschaft? Was war dann der überfall der Sowjetunion auf Finnland 1939? Eine Polizeiaktion? Der Einmarsch in Afghanistan? Entwicklungshilfe? Oder noch früher: die übergriffe auf deutsches Reichsgebiet 1918? Ein Präventivschlag?
So sehr der Autor auch mit vielen anderen Äußerungen recht hat, so sehr wird die gesamte Darstellung durch die ideologische Fixierung entwertet. Dafür zeigt das Buch aber eindrücklich, wie wenig Wissenschaft wert ist, wenn die Ergebnisse der Forschung aus ideologischen Gründen von vornherein feststehen. Meine Zweifel daran, dass es in der aktuellen Wissenschaft so viel ideologiefreier zugeht, lasse ich unausgeführt.
März 6th, 2010 at 9:21 pm
Aber darin liegt die Krux: für die Sowjetunion (und auch das heutige Russland) IST der sogenannte ‘Große Vaterländische Krieg’ (in Anlehnung an den ‘Vaterländischen Krieg’ gegen Napoleon) etwas anderes als der 2. Weltkrieg. Er fängt erst 1941 an. Was davor geschieht, gehört nicht zu dieser Geschichte. Eine Geschichtswissenschaft, die aus dieser Perspektive schaut, ist gezwungen, zwischen beiden zu unterscheiden, ansonsten wäre es ja nötig, auch über den Angriff auf Polen nachzudenken. So ist es nun mal, die (offizielle) Geschichte wird von den Sieger_innen geschrieben…
März 7th, 2010 at 5:38 pm
Dass eine dem Primat der Politik unterworfene Geschichtswissenschaft gezwungen ist, politischen Vorgaben zu folgen, steht wahrscheinlich außer Frage. Aber warum diese Unterscheidung zwischen dem Krieg gegen die UdSSR und dem Krieg gegen den Rest der Welt? Weil der Krieg zwichen bourgeoisen Staaten nicht ins ideologische Bild der UdSSR passte? Oder offenbart sich hier eine speziell russische Geltungssucht, die es nicht ertragen kann, mit in den Begriff “Zweiter Weltkrieg” zu fallen und damit womöglich auf einer Stufe mit Polen oder Belgien zu stehen? Die US-Amerikaner, auch nicht zurückhaltend, wenn es um die eigene Bedeutung geht, haben dieses Problem zumindest nicht.
März 9th, 2010 at 12:06 pm
Als wär die SU die einzigen, deren Ideologie Wissenschaft und Geschichtsschreibung geprägt hätte.
Vielleicht hat es was mit dem Hitler-Stalin-Pakt zu tun, dass das ZK der KPdSU den Krieg Deutschlands erstmal als anti-imperalisitischen Krieg sehen wollte, nachdem der Internationalismus vom ZK schon lange aufgegeben war. Und dann war der “Verteidigungs”feldzug gegen das Deutsche Reich nur eine Abwehr der Aggression Hitlers und keine Einmischung in den 2. Weltkrieg.
naja ich hör mit dem spekulieren auf, gibt bestimmt gut recherchierte Bücher.
Mai 14th, 2010 at 3:56 pm
Hat a bissle gedauert, bis ich mal wieder hier vorbeigekommen bin… Ich übersetze mal die Anfänge zweier russischer Wikipediaeinträge, das zeigt vielleicht, wie die Russen das sehen:
“Der Große Vaterländische Krieg (1941-1945) ist der Krieg der UdSSR gegen das nationalsozialistische Deutschland und seine europäischen Verbündeten (Bulgarien, Ungarn, Italien, Rumänien, Slowakei, Kroatien, Spanien); der entscheidende Teil des Zweiten Weltkrieges.”
“Der zweite Weltkrieg (1.9.1939- 2.9. 1945) ist der bewaffnete Konflikt zwischen zwei weltweiten kriegerischen und politischen Koalitionen, der den größten Krieg in der Geschichte der Menschheit darstellt. An diesem Krieg nahmen 62, der zu diesem Zeitpunkt 73 existierenden Staaten teil. Die Kriegshandlungen erstreckten sich auf das Territorium dreier Kontinente und die Gewässer vierer Ozeane.”
Keine Frage, das ist eine ungewohnte Setzung und es ist immer wieder spannend wie auf jeder Seite des Kalten Krieges die eigene Bedeutung höher eingeschätzt wird, als die der anderen Seite. Aber Periodisierung ist Ansichtssache. Auch den Pelopponesischen Krieg gibt es nur, weil ein athenischer Historiker ein Geschichtswerk mit diesem Titel verfasst und eine Vielzahl von Konflikten, die sich über mehr als 20 Jahre erstreckten, als einen großen Krieg beschrieben hat. Das kann auch ganz anders gesehen werden und ich bin nicht sicher, dass die etablierte Periodisierung als ‘richtiger’ angesehen werden sollte, als andere Alternativen.
Mai 14th, 2010 at 11:30 pm
Hmm… interessanter Hinweis auf Thukydides. Allerdings sehe ich die Parallelen eher zwischen demPelopponesischen Krieg und dem Dreißigjährigen Krieg als dem Zweiten Weltkrieg. Immerhin existiert der dreissigjährige Krieg eigentlich nur aus deutscher Sicht: Dänemark war nur sechs Jahre lang beteiligt, Schweden fünf Jahre lang, Frankreich immerhin 13 Jahre. Am Zweiten Weltkrieg dagegen waren die wichtigen europäischen Parteien von Anfang an beteiligt: Rußland im Rahmen der Besetzung Polens und dem Angriff auf Finland, England und Frankreich durch die Kriegserklärung an das Reich. Nur die USA fehlten - wenn man von Waffenlieferungen an England und die UdSSR absieht.
Aber natürlich hast Du recht, Periodisierung ist willkürlich. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang den Ansatz, Ersten und Zweiten Weltkrieg zu einem zweiten Dreißigjährigen Krieg zusammenzufassen (nur dass ich spontan nicht weiss, von wem die Idee ist).
Mai 17th, 2010 at 11:04 pm
Davon habe ich noch nie gehört, aber wenn ich an die Motivationen für den 2. WK denke, lässt sich das gut hinkonstruieren. Ich würde auch nicht so auf Europa fixieren, echte Profis können bestimmt eine Menge unterschiedlicher Etappen während des 2. WK ausmachen, die auch alle als einzelne Kriege / Feldzüge angesehen werden können, wenn z.B. jemand die Verantwortung bagatellisieren wollte.
Mai 19th, 2010 at 8:20 pm
Wikipedia nennt als Vertreter der These vom zweiten dreissigjährigen Krieg unter anderem Fritz Stern, Hans-Ulrich Wehler, Ian Kershaw und Eric Hobsbawm - die Idee scheint doch verbreiteter zu sein als ich dachte. Ich denke Periodisierung ist ein schönes Hilfsmittel aber einzelne “Zeitalter” sind in ihrer kalendarischen Einordnung nicht in Stein gemeisselt - nur bring das mal einem Laien bei.