Wiedergehört: Die schöne Müllerin
Als ICE-Fahrer hat man gewisse Vorteile. Einer davon ist, dass man kostenlos beschallt wird. So kam ich dazu, im November mal wieder Schuberts Schöne Müllerin zu hören - in einer Aufnahme von Jonas Kaufmann mit Helmut Deutsch am Klavier. Von diesem Erlebnis angesteckt habe ich mir dann – nach etlichen Jahren wieder – meine eigenen Aufnahmen angehört, mit Fritz Wunderlich und Bo Skovhus.
Mein damaliger Eindruck, dass die Interpretation von Skovhus die bessere sei, hat sich wieder bestätigt. Fritz Wunderlich ist zwar an Stimmschönheit der beste deutsche Tenor der Plattengeschichte und, wenn man mich fragt, auch international nur von Jussi Björling geschlagen (dicht gefolgt allerdings vom jungen Pavarotti und Ferrucio Tagliavini) aber seine Interpretation der schönen Müllerin liegt, zumindest bei den ersten Stücken, deutlich daneben. Hört man Wunderlich “Das Wandern” oder “Wohin?” singen bekommt man den Eindruck, emotional bereits das Ende des Zyklus erreicht zu haben.
Zur Erinnerung: Ein Müllersgeselle begibt sich auf Wanderschaft (Das Wandern), kommt an eine Mühle (Halt!), verliebt sich dort in die Tochter des Müllers (Am Feierabend) – allerdings vergeblich (Eifersucht und Stolz). Schließlich – wie könnte es auch anders sein – bringt er sich um (Der Müller und der Bach). Wunderlich singt nun “Das Wandern” und “Wohin?” in derart bedrücktem Ton, dass man meint, des Müllers Suizid stünde unmittelbar bevor. Als seien die ersten 17 Nummern nur Rückblicke des zum Tode entschlossenen Müllers. Wunderlich platziert damit den gesamten Zyklus räumlich und zeitlich auf einen Ort, nämlich die letzten Momente des Müllers, sein letztes Zwiegespräch mit dem Bach. So verstanden wäre es natürlich richtig, jedes Stück mit einem Unterton tiefer Verzweiflung zu singen, jede (dann) vorgebliche Fröhlichkeit ad absurdum zu führen, gesanglich zu konterkarieren.
Ganz anders dagegen – und meines Erachtens richtig – baut Skovhus seine Interpretation auf. Er betrachtet die einzelnen Nummern als, im Großen und Ganzen, zeitlich aufeinanderfolgend mit dem unbeschwerten Beginn des wandernden Müllers über den emotionalen Höhepunkt der erfüllt geglaubten Liebe (Ungeduld) bis zu abgründiger Verzweiflung und schließlich Tod. Skovhus hat, und unter anderem deshalb schätze ich seine Version so, auf jeden Fall den Text auf seiner Seite. “Das Wandern” ist im Präsens gehalten, kann meines Erachtens aber sowohl als Abschied an den Lehrherren, als auch als Wanderlied verstanden werden. “Wohin?” dagegen steht im Perfekt, “Halt!” dagegen wieder im Präsens. Daraus lässt sich nur folgern, dass “Wohin?” in der Tat einen Rückblick darstellt, allerdings nicht erst zum Zeitpunkt des bevorstehenden Selbstmordes, sondern während der Müller am Bach entlang wandert, kurz bevor er der Mühle gewahr wird. Insofern ist Skovhus Interpretation die “richtigere”.
Zurück zu Kaufmann: seine “Müllerin” ähnelt eher der von Skovhus, man muss sich also nicht jedes mal aufregen, wenn man ihn “Das Wandern” singen hört. Somit ist sie durchaus geeignet lange Zugfahrten kurzweilig zu gestalten.