Entsetzen oder Vorwand
Ein Polizist ist niedergestochen worden – das ist verurteilenswert, keine Frage. Was mich aber erheblich stört, ist die Reaktion weiter Teile der Politik auf diesen Vorfall. Ein Schrei ging durch das politische Establishment, der auch in den Medien widerhallte: Verbietet die NPD. Nun bin ich kein Freund der NPD; ich bin allerdings ein großer Freund der Demokratie und als solcher stehe ich jedem Ansatz eines Parteiverbots skeptisch gegenüber. Zudem dürfte es außer Diskussion stehen, dass es nicht zu einem Verbot der NPD kommen wird. Es stellt sich also die Frage, warum erneut diese unrealistische Forderung erhoben wird.
Zum einen könnte es sich um den durchsichtigen Versuch mancher egomanen Politiker handeln, mit möglichst weitreichenden (aber auch möglichst konsequenzlosen) Forderungen mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wäre der Täter Ausländer gewesen, hätte die gleiche Sorte Politiker umgehend nach kurzfristiger Abschiebung aller straffälligen Ausländer gerufen – in dem Wissen, dass Ihnen diese Forderung zwar Aufmerksamkeit beschert, aber niemals umgesetzt werden wird. Andererseits könnte aus der Reaktion auch die nackte Angst sprechen. Diesmal war es nicht irgendein namenloser Ausländer, der den Kopf hinhalten musste für den hohnsprechenden Mangel an Bereitschaft der Politik, antifaschistische Aufklärung zu finanzieren. Diesmal war das Opfer ein hochrangiger Vertreter der Staatsgewalt. Was liegt also näher, als anzunehmen, dass auch die Politiker über kurz oder lang ins Fadenkreuz rechter Gewalttäter geraten könnten. Hans-Christian Ströbele hat es schließlich bereits im September 2002 getroffen.
Es gibt jedoch noch eine dritte Möglichkeit, dass nämlich manche Politiker aus der Tat Kapital zu schlagen hoffen, dergestalt, dass sie ihnen als Vorwand dienen möge, ein lang verfolgtes Ziel endlich zu erreichen. Unter dem Eindruck dieser, an den Grundfesten staatlicher Ordnung rüttelnden Gewalttat, könnte nun - so mögen manche Politiker spekulieren - ein Verbot der NPD erreicht werden. Dass dieser Gedanke alles andere als abwegig ist, mögen zwei historische Beispiele demonstrieren.
Am 7. November 1938 drang der polnische Jude Herschel Grynspan, nachdem er von der Deportation seiner Eltern von Deutschland nach Polen erfahren hatte, mit einem Revolver bewaffnet in die deutsche Botschaft in Paris ein und eröffnete das Feuer auf den ersten Diplomaten, der ihm begegnete, den Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath. Am 09. November erlag vom Rath seinen Wunden. Bereits als die Nachricht von dem Attentat in Berlin eintraf, beschloss die NSDAP-Parteiführung, den Vorfall auszunutzen, um konzertierte Gewalttaten gegen die deutschen Juden propagandistisch zu begleiten. Hatte das Regime das gesamte Jahr über den Druck auf die deutschen Juden erhöht, so bot sich nun ein Vorwand, im großen Stil gegen sie vorzugehen. Es spricht einiges dafür, dass Hitler, der größeren propagandistischen Wirkung wegen, den Tod vom Raths abwartete, bevor er den Befehl zum Losschlagen gab. Außer Zweifel steht jedoch, dass das Attentat auf vom Rath nicht der Grund für die Ausschreitungen des 9./10. November war, sondern lediglich ein propagandistischer Vorwand für lange im Vorfeld geplante Aktionen. (Nur am Rande sei erwähnt, dass das tödliche Attentat auf Wilhelm Gustloff im Februar 1936 keinerlei “Folgen” für die deutschen Juden hatte, da die NS-Führung im Olympiajahr um ihr internationales Ansehen besorgt war.)
Fast 120 Jahre zuvor war ebenfalls ein Attentat zum Anlass genommen worden, längst geplante oder zumindest gewünschte Maßnahmen durchzusetzen. Am 23. März 1819 erstach der Jenaer Theologiestudent Karl Ludwig Sand den Schriftsteller August von Kotzebue in dessen Wohnung. Diesen Mord nahmen die Staaten des Deutschen Bundes zum Anlass, im Rahmen der sogenannten Karlsbader Beschlüsse gegen die Presse und die gesamtdeutsche Bewegung, insbesondere gegen die Burschenschaften und ihre akademischen Vordenker wie Jahn und Arndt vorzugehen. Die Burschenschaften, gesamtdeutsch und in ihrer Mehrheit sogar demokratisch gesinnt, waren die erklärten Gegner der Restauration, der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Wiederherstellung der vornapoleonischen politischen Ordnung einschließlich ihrer deutschen Kleinstaaterei und ihrer absolutistischen Herrschaftssysteme. Spätestens seit dem Wartburgfest stand daher der Kampf gegen diese Opposition auf der Agenda der deutschen Staaten. Das Attentat des ehemaligen Burschenschafters Sand lieferte schließlich den passenden Vorwand.
Februar 11th, 2011 at 10:46 pm
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