9. November
Der 9. November liegt nun ein paar Tage zurück und gab wieder einmal Anlass, über die Bedeutung dieses Datums in der deutschen Geschichte zu reflektieren. Glaubte man an das Schicksal, so ließe sich der 9. November unzweifelhaft als Schicksalstag der Deutschen bezeichnen. Schließlich markiert er nicht nur den entscheidenden Tag zweier Revolutionen, sondern auch das kurzzeitige Ende von Aufklärung und Humanität in Deutschland.
Der 9. November 1918 markiert nicht nur das Ende des wilhelminischen Kaiserreichs und der untergeordneten Monarchien und damit das Ende aller deutschen Monarchien (wenn auch nicht das Ende totalitärer Herschaft in Deutschland), sondern ich würde sogar soweit gehen, in der Revolution das endgültige Ende des sogenannten alten Reichs, des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, zu erblicken. Zwar lebte das wilhelminische System aus einer gesamtdeutschen Idee heraus, die dem alten reich völlig fremd war, doch hatten sowohl die Monarchie, als auch die Reichsidee weiterhin Bestand. Zudem stellte sich das wilhelminische Deutschland wenn auch fälschlicherweise so doch bewusst in eine ununterbrochene Traditionslinie mit den mittelalterlichen Wurzeln des Reiches. Mit der Monarchie fand auch diese Traditionslinie durch die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann ihr Ende. Der Umstand, dass nahezu zeitgleich durch Karl Liebknecht die Sozialistische Republik ausgerufen wurde wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf die Weimarer Republik und ihre folgenden Probleme.
In einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem 9. November 1918 steht der 9. November 1989. An diesem Tag haben die Deutschen, wie es das Grundgesetz nahezu poetisch formuliert, “in freier Selbstbestimmung die… Freiheit Deutschlands vollendet” und damit auch dem (vorerst) letzten totalitären System auf deutschem Boden den Todesstoß versetzt.
Der 9. November 1938 markiert ebenfalls einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte, nämlich die Wende von der organisierten Diskriminierung der deutschen Juden hin zu ihrer physischen Verfolgung. Für die nationalsozialistische Revolution (wenn man diesen Begriff denn ob des tiefen Eingriffs der Machthaber in alle Lebensbereiche, ob der Installation eines totalen Staates, der in seiner Vereinnahmung der Bürger den sozialistischen Regimes nicht unähnlich war verwenden will) war der Tag dabei weniger bedeutend, als für die Deutschen in ihrer Gesamtheit. An diesem Tag nämlich entschieden sie sich für die Gefolgschaft oder zumindest die Duldung eines offensichtlich verbrecherischen Regimes und gegen alle Errungenschaften der Aufklärung, gegen die Judenemanzipation, gegen die Idee der Gleichberechtigung, gegen die Idee der Menschenrechte. Lag er auch lange vor der Wannseekonferenz, so trat an diesem Tag (oder besser der Nacht) die Bereitschaft des Regimes zu offener Gewalt zutage. Wäre nach dieser öffentlichen Demonstration des Vernichtungswillens ein Aufschrei der Empörung durch Deutschland gegangen, so wäre der folgende industrielle Massenmord unter Umständen zu verhindern gewesen. Doch der Aufschrei blieb aus. Wirtschaftlicher Aufschwung und ein neu erwachtes nationales Selbstwertgefühl waren den Deutschen Gegenwert genug für den massenhaften Mord an ihren Mitbürgern und in den folgenden Jahren ihren europäischen Nachbarn.
Dreimal der 9. November, drei Schicksalstage, drei historische Ereignisse – und doch scheinen sie nichts miteinander zu tun zu haben, scheint es keinerlei innere beziehung zwischen diesen Ereignissen zu geben. Dennoch gleichen sich diese Ereignisse auf einer sehr abstrakten Ebene, denn alle drei Tage waren Tage der kollektiven Entscheidung. 1918 entschieden sich die Deutschen gegen den Krieg und gegen eine ökonomisch und legimatorisch ruinierte Monarchie; 1989 entschieden sich die Deutschen in der DDR für die Freiheit und für die Einheit; 1938 entschieden sie sich ebenfalls – gegen ihre Mitmenschen, gegen die Bändigung eines auf Gewalt beruhenden, die Gewalt feiernden Systems.
Natürlich ist diese Sichtweise eine stark vereinfachte und lässt die Komplexität, den Kausalitätspluralismus der Ereignisse zumindest vordergründig außer Betracht. Und dennoch meine ich, dass diese Sichtweise trotz ihrer Einfachheit nicht falsch ist. Es bleibt zu hoffen, dass sich daraus keine Regelmäßigkeit entwickelt.