Helden oder Sünder - kurze Gedanke über Selbstmörder
Das Unternehmen ist ein Misserfolg. Am 25. November 1970 steht der Schriftsteller Yukio Mishima auf einem Dach des Hauptquartiers Ost der japanischen Streitkräfte in Tokio und hält vor 2000 Soldaten eine flammende Rede. Er fordert sie auf, als Erben der Samurai die Regierung zu stürzen und durch eine Restauration der Monarchie den kulturellen Niedergang Japans aufzuhalten. Doch die Soldaten reagieren mit Verachtung, übergießen Mishima mit Hohn und Spott. Nach einem dreifachen Hoch auf den Kaiser zieht sich Mishima in das Zimmer des Kommandeurs zurück, in dem er diesen gefangen genommen hat, und begeht Seppuku. Sein Lebensgefährte Masakatsu Morita sekundiert ihm als Kaishaku-Nin und enthauptet Mishima, bevor er selbst Seppuku begeht. Zwei Jahre später veranstalten rechtsextreme Gruppen zum ersten Mal eine Gedenkfeier am Grab Mishimas und halten bis heute an dieser Tradition fest.
Am 28. Juni 2008 tötet sich in Würzburg eine 79jährige Frau mit Gift. Grund für diesen Schritt ist Medienberichten zufolge ihre Sorge zum Pflegefall zu werden. Das Gift hat ihr der ehemalige Justizsenator von Hamburg, Roger Kusch, verschafft. Zum Beweis der Tatsache, dass er nicht am Selbstmord direkt beteiligt war, nimmt Kusch das Sterben der Frau auf Video auf und präsentiert ihren Tod der Öffentlichkeit. Damit will er ein Zeichen für die in Deutschland weitgehend verbotene Sterbehilfe setzen. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert auf den Vorgang und seine mediale Inszenierung mit Empörung. Eine durch die Leitmedien transportierte Welle der Verachtung stürzt sich auf Roger Kusch ein.
Zweimal Selbstmord, zweimal Sterbehilfe, getrennt durch 30 Jahre und ca 9.000 km. Aber wie kommt es zu solch unterschiedlichen Reaktionen. In aller Kürze sei gesagt, dass nicht nur der Selbstmord, sondern auch das Amt des Sekundanten fester Bestandteil der japanischen Kultur sind. In vielen Fällen waren es enge Freunde des Selbstmördes, die ihm mit dem Schwert diesen letzten Dienst erwiesen.
In Deutschland dagegen ist die Sterbehilfe verfemt. Woher aber stammt diese Feindseligkeit gegenüber den Menschen, die ihren Mitmenschen das Sterben erleichtern wollen? Meines Erachtens beginnt, wer über Sterbehilfe diskutiert, die Auseinandersetzung an der falschen Stelle, zäumt quasi das Pferd von hinten auf. Bei allen Vorbehalten gegen Sterbehilfe, bei aller Sorge über die wahren Motive der Sterbehelfer und die möglichen Missbräuche ist das Problem zuallererst nicht die Sterbehilfe, sondern der Selbstmord. Wäre der Selbstmord eine sozial anerkannte Handlung, so könnte auch die Hilfe dazu kein Problem sein. Das Problem der Sterbehilfe ist nämlich nicht, dass ein Mensch einen anderen tötet, in der Form, dass er ihm beim Selbstmord hilft, sondern dass in unserer Gesellschaft die Ablehnung, ja die Verdammung des Selbstmordes tief verwurzelt ist. Die Auseinandersetzung um die Sterbehilfe muss also mit einer Auseinandersetzung über den Selbstmord beginnen.
Unser Verhältnis zum Selbstmord ist immer noch geprägt von den christlichen Moralvorstellungen nach denen der Selbstmörder, da er das ihm von Gott geschenkte Leben fortwirft, der Verdammnis anheim fällt. So einleuchtend diese Haltung aus theologischer Sicht im ersten Moment erscheint, so erstaunlicher ist es doch, dass das Neue Testament keine eindeutige Haltung zum Selbstmord vermittelt. Die hohe Stellung des Lebens, die sich aus dem Gebot der Feindesliebe und dem Gewaltverbot ergibt, gilt nur, wenn es um das Leben anderer geht. Das eigene Leben jedoch genießt nicht den gleichen Stellenwert. Das absolute Gewaltverbot enthält sogar die Pflicht, das eigene Leben im Zweifelsfall nicht zu schützen. Wenn man jedoch sehenden Auges in den sicheren von fremder Hand herbeigeführten Tod geht, wie es so viele Märtyrer getan haben, so ist der Unterschied zum Tod von eigener Hand nur noch ein gradueller.
Trotz des strengen Verbots war das Verhältnis zum Selbstmord in Europa nie eindeutig. War die Selbsttötung mit der Rettung anderer Menschen betroffen, so wurde aus dem Sünder ein Held. Das galt (und gilt) gleichermaßen für den Seemann, der die rettende Planke einem Kameraden überlässt wie für den Soldaten, der statt Deckung zu suchen sich auf die Handgranate wirft, um seine Kameraden zu schützen. Die Akzeptanz des Selbstmordes ging sogar soweit, dass im 19. Jahrhundert der Selbstmord der einzige ehrenvolle Ausweg des Bankrotteurs war. Und sowohl die Japaner, als auch die Islamisten gehen so weit, den Selbstmord als Mittel der Kriegführung nicht nur zu akzeptieren, sondern besonders zu ehren.
Dieses ambivalente Verhältnis zum Selbstmord besteht auch heute noch. Ganz selbstverständlich fordert der Staat von seinen Dienern, in Zeiten von Not und Gefahr das eigene Leben zu opfern. Der Dank für dieses Opfer ist eine gewisse Heldenverehrung. Konsequenterweise sieht auch das Grundgesetz die Schutzpflicht des Staates für das Leben absolut an, sondern lässt Ausnahmen zu. Daher kann der Staat das Leben Einzelner auch dem Grundsatz, nicht mit Terroristen zu verhandeln opfern.
Nun mag man einwenden, alle von mir gewählten Beispiele beträfen nicht den Selbstmord. Das Opfer des eigenen Lebens in Not und Krieg sei nicht als Selbstmord zu werten, da das eigene Leben nicht durch eine eigene Handlung, sondern durch äußere Umstände beendet werde. Dieser Einwand greift jedoch zu kurz. Der Selbstmörder, der sich vor einen Zug wirft und der Soldat, der sich auf eine Handgranate wirft sind durchaus vergleichbar. Beide nutzen eine vorhandene Situation, die geeignet ist, das eigene Leben zu beenden aus. Beide entscheiden sich, das eigene Leben zu beenden und beide beenden ihr Leben durch eine eigene Handlung. Die Tatsache, dass der eine sein Leben gibt um andere Menschen zu retten begründet die Achtung, die sein Andenken erfährt. Aber ist die Tatsache, dass der andere sich selbst tötet, ohne einem Zweck zu folgen wirklich ausreichend, um über ihm den Stab zu brechen?
Vielleicht sollten wir akzeptieren, dass der selbstbestimmte Mensch auch über den eigenen Tod frei entscheiden kann. Und vielleicht sollten wir weiter akzeptieren, dass die Entscheidung für den Tod gleichermaßen fallen kann, um Leiden zu verkürzen, wie um Menschen leben zu retten oder auch Menschen zu töten.
Auf der anderen Seite sollten wir vielleicht aber stattdessen das Leben als so wertvoll einschätzen, dass es zu niemandes Disposition steht. Wenn wir aber dem Einzelnen nicht das Recht zugestehen wollen, das Ende des eigenen Lebens selbst zu bestimmen, warum sollte dann der Staat das Recht haben, über den Tod eines Menschen zu entscheiden, sei es in Form der Todesstrafe, sei es im Rahmen des Abschusses eines entführten Flugzeugs oder durch den finalen Rettungsschuss?
Erst wenn die Entscheidung gefallen ist, ob das eigene Leben als disponibel einzuschätzen ist, kann darüber diskutiert werden, ob derjenige, der in freier Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts den Tod wählt, nicht auch fremde Hilfe in Anspruch nehmen kann. Die derzeitige mediale Entrüstung verhindert diese Diskussion leider.