Mehrheiten und andere Arcana
Die Hamburger haben gewählt und ähnlich den Hessen die Parteienlandschaft verändert. Nun ist allerdings die Situation in Hamburg nicht ganz so kompliziert wie in Hessen, hat doch Ole von Beust die Option mit der GAL zu koalieren. Sollten die Hamburger Grünen ihre unverständlichen Vorbehalte gegen die CDU ablegen – immerhin stammt ihre Wählerschaft aus dem Milieu, das die CDU lautstark für sich in Anspruch nimmt – könnte es zur ersten schwarz-grünen Koalition in einem Bundesland kommen.
In Hessen ist dagegen die Situation verfahrener. Die CDU beansprucht die Regierungsbildung für sich und offenbart dabei ihr tiefgehendes Unverständnis für das deutsche Wahlsystem, stellt doch nach einer Verhältniswahl die Mehrheitskoalition im Parlament die Regierung, nicht die größte Fraktion, die im Zweifelsfall doch nur eine Minderheit des Wahlvolkes repräsentiert; die FDP warnt zwar lauthals vor der „kommunistischen Gefahr“, rührt aber keinen Finger um eine wie auch immer geartete Regierungsbeteiligung der Linkspartei zu verhindern, sondern zieht sich in den Schmollwinkel zurück, weil sie ihr Wahlziel nicht erreicht hat; die Grünen weigern sich verbissen, in eine sogenannte Jamaikakoalition einzutreten, statt ihre Stellung als Mehrheitsgarant zu nutzen und ihre Vorstellungen durchzusetzen; und die SPD schließlich will zwar angeblich mit der Linkspartei nicht kooperieren, unternimmt aber auch nichts, um eine andere Koalition möglich zu machen. Manchmal fragt man sich ernsthaft, was eigentlich der Unterschied ist zwischen einem Parlament und einem Kindergarten. Auch die Überlegung, Neuwahlen anzustreben, zeugt nicht gerade von Verantwortungsbewusstsein. So möchte man den hessischen Politiker frei nach Brecht zurufen: „Wenn euch euer Wahlvolk nicht gefällt, so löst es doch auf und wählt ein neues!“
Bei all’ dieser Selbstinszenierung, bei all’ dieser standhaften Weigerung, verantwortungsbewusst mit dem Wählerauftrag zu verfahren, verstellen unsere Politiker sich und uns den Blick auf die wirklich interessanten Fragen, die die letzten drei Landtagswahlen aufgeworfen haben: Wie entwickelt sich die Parteienlandschaft? Warum kommt es zu dieser Entwicklung? Was bedeutet diese Entwicklung für die Demokratie und unsere Parteien?
Die Parteienlandschaft, gewinnt man den Eindruck, befindet sich im Wandel. Die Zeiten, da die beiden Volksparteien sich den Bundestag nur mit ihrem Mehrheitsbringer FDP teilen mussten sind bereits seit 1983 vorbei, als die Grünen in den Bundestag einzogen. Auch die Linkspartei scheint fest im gesamtdeutschen Parlament verankert zu sein und erobert nun die westdeutschen Länderparlamente. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bei den Erfolgen der Linkspartei nicht nur um eine Protestbewegung handelt, schließlich rekrutiert sich ihre Wählerschaft im Gegensatz zur klassischen Protestwä,hlerpartei NPD aus dem Bürgertum, das nicht gerade für allzu kurzsichtige Wahlentscheidungen bekannt ist. Sollte die Linkspartei nicht vom NPD-Syndrom befallen werden und erleben müssen, wie ihre Fraktionen wegen interner Differenzen oder staatsanwaltlichem Eingreifen auseinanderfallen, dürften die Abgeordneten ein dauerhafter Anblick in den deutschen Parlamenten werden. Dann ist aber aus der alten Drei-Parteien-Landschaft der 60er und 70er Jahre eine Fünf- oder gar Sechs-Parteien-Landschaft (eine Partei aus dem rechten Spektrum) geworden.
Natürlich stellt man sich jetzt die Frage, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Warum wählt das deutsche Wahlvolk plötzlich fünf Parteien obwohl es bis in die 80er Jahre hinein mit drei Parteien zufrieden war? Meines Erachtens dürfte der Hauptgrund hierfür sein, dass sich die deutsche Gesellschaft zunehmend diversifiziert, was mit einem Verschwinden geschlossener Milieus einhergeht. Als erstes musste die SPD den Verlust der Arbeiterklasse erleben. In einer modernen Dienstleistungsgesellschaft gibt es kaum noch Platz für den klassischen Arbeiter. Hinzu kommt, dass die integrative Wirkung der klassenkämpferischen SPD (und KPD) der zwanziger Jahre nicht mehr existiert. Der zunehmend egalitäre Habitus der Bonner und Berliner Republik (der vielleicht tatsächlich in dem nationalsozialistischen Gedanken der Volksgemeinschaft wurzelt) verhindert ein wie auch immer geartetes Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft. Dabei mag das schlechte Vorbild der DDR durchaus auch eine Rolle gespielt haben. Den autoritären “Arbeiter- und Bauernstaat” in Sichtweite fällt es schwer, Klassenkampfparolen zu verbreiten. Diese Entwicklung wurde sicher durch die Ausrichtung der SPD in der Ära Schröder verstärkt. Durch den Versuch, die „neue Mitte“ als Wählerschaft zu erobern und sich als Reformkraft in der politischen Landschaft zu etablieren hat sich die SPD von ihrer Stammwählerschaft entfernt und sicher zu einem guten Teil zum aktuellen Erfolg der Linkspartei beigetragen.
Obwohl sie zur Zeit tendenziell die größte Partei ist, ist die Situation für die CDU nicht besser. Auch wenn die Kommentatoren der FAZ geradezu verzweifelt weiterhin von „bürgerlichen“ Parteien sprechen, wenn sie die CDU und die FDP meinen, ändert das nichts an zwei Tatsachen, mit denen sich die CDU wird abfinden müssen: ihr altes Wählermilieu existiert nicht mehr (darin ähnelt sie der SPD) und sie ist keine bürgerliche Partei. Vorbei sind die Zeiten, als am Wahlsonntag die Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe verlesen wurden, die es jedem Christen quasi zur heiligen Pflicht machten, die CDU zu wählen. Das christlich-bürgerliche und chritlich-bäuerliche Milieu, das einst Garant für die Wahlsiege der CDU war, existiert nicht mehr. Die integrative Kraft der christlichen Kirchen in Deutschland ist verschwunden. Hinzu tritt, dass sich die CDU durch ihre zwar wirtschaftsliberale, aber dafür bürgerrechtsferne Grundausrichtung zunehmend in Opposition zu den Kirchen setzt. Damit, und das dürfte noch schwerer wiegen, stößt sie aber auch das Bürgertum, insbesondere das Bildungsbürgertum ab, das nach einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen eher die Grünen und die Linkspartei wählt. Einzig landwirtschaftlich geprägte gesellschaftliche Gruppen und die Gruppe der über 50 Jährigen scheint noch fest in der Hand der CDU zu sein.
Zu dieser Auflösung alter Milieus tritt aber noch die zunehmend unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der Wählerschaft hinzu. Die sogenannten Volksparteien können einfach nicht alle Themen gleich kompetent besetzen. Daher wählt, wer eine möglichst ungezügelte Wirtschaftsentwicklung befürwortet eher die FDP, wer Wert auf Umweltpolitik und den Bestand der Bürgerrechte legt, die Grünen und wer seine Wahlentscheidung von der Besetzung des Themas „soziale Gerechtigkeit“ abhängig macht, tendiert zur Linkspartei. Unter diesen Umständen bleiben für CDU und SPD vornehmlich die Macht der Gewohnheit und der Vorteil der höheren Medienpräsenz. Das alles lässt aber nur den Schluss zu, dass die beiden „großen“ Parteien in absehbarer Zukunft aufhören werden, Volksparteien zu sein (die SPD hat dieses Schicksal in bereits in Sachsen, die CDU in Brandenburg ereilt, wo sie jeweils nur drittstärkste Partei wurden).
Für die Zukunft lässt diese Entwicklung auf einen endgültigen Bruch der Dominanz von CDU und SPD hoffen. Allerdings stimmt dieser Befund nicht nur positiv. In einem Parlament, dass aus bis zu sechs Parteien besteht, in dem die Parteien womöglich ähnlich groß sind, ist eine Regierungsbildung natürlich komplizierter als in einem Parlament, das von ein oder zwei großen Parteien beherrscht wird. Die aktuelle Bewegungslosigkeit in Hessen und der Ruf nach Neuwahlen lässt bereits die Erinnerung an die Weimarer Republik dräuend am Horizont aufziehen. Schließlich hat Deutschland die konsequente gegenseitige Blockade politischer Parteien bereits erlebt und der Hang der Weimarer Politiker, sich kooperationsbereit nur zu zeigen, solange man nicht konstruktiv arbeiten musste (bei Streiks war durchaus auch eine Zusammenarbeit von KPD und NSDAP möglich), hat direkt in die Diktatur geführt. Noch ist es glücklicherweise nicht so weit, aber um eine solche Entwicklung in die Unregierbarkeit zu vermeiden ist es notwendig, dass die politische Klasse in Deutschland unterstützt von den Medien mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag legt, als sie bisher gezeigt hat. Für die Politiker muss es zum obersten Ziel werden, nach einer Wahl eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Sich gegenseitig aus dem Schmollwinkel heraus nur Wortbruch vorzuwerfen ist nicht zielführend. Von den verantwortlichen Politikern sind nun Eigenschaften verlangt, die in einer Mediendemokratie eine untergeordnete Rolle zu spielen schienen: Zurückhaltung, Gemeinwohlorientierung und Kompromissbereitschaft. Die aus dem Narzissmus des einzelnen Politikers geborene geistige Bewegungslosigkeit, der Drang, sich auf Kosten einer sachlichen Politik vornehmlich der Selbstdarstellung zu widmen, sind unter diesen Umständen nicht zukunftsfähig. In dieser Hinsicht scheint die Bundeskanzlerin bereits ein Vorbild zu sein. Während sie die aus Selbstverliebtheit geborenen Zwiste ihren nachgeordneten Chargen überlässt, scheint das Prinzip ihres Handelns die Suche nach Ausgleich zu sein. Sie scheint sich selbst als vermittelnde Kanzlerin zu sehen und weniger als Entscheidungsträgerin. Die guten Noten, die ihr die Deutschen ausstellen scheinen ihr Recht zu geben. Dass sie ihre Rolle vornehmlich durch politische Untätigkeit ausfüllt, dass ihre Moderation vornehmlich darin besteht, nicht in Erscheinung zu treten (außer als hessische Wahlkämpferin), haben die angelsächsischen Medien längst durchschaut. Den Deutschen steht diese Erkenntnis noch bevor. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Politiker schnell mit den veränderten Umständen zu leben lernen.