Blutsonntag
Was muss eigentlich passieren, damit ein aktiver Priester seiner Verzweiflung mit dem Ausruf “Es gibt keinen Zar. Es gibt keinen Gott” Ausdruck verleiht? Nichts weiter, als dass eine von ihm geleitete Demonstration von Soldate zusammen geschossen wird. So geschehen in St. Petersburg am 09. Januar 1905 – dem Blutsonntag.
Das beginnende 20. Jahrhundert sah das zaristische Rußland in einer tiefen Krise. Der größte Teil der Bevölkerung lebte in tiefer Armut, unterdrückt und ausgebeutet von Adel und Wirtschaft, in die Armee gepresst oder zur Prostitution gezwungen. Mit eiserner Hand versuchte der von seiner göttlichen Berufung erfüllte aber durch und durch mittelmäßige Zar Nikolaus II. das Volk ruhig zu halten. Dass sich gleichzeitig sein Traum von der Großmacht Rußland im Feuer japaischer Kanonen in einen Alptraum verwandelte und er in einem desaströsen Krieg 1904/05 zwei Flotten und die Vormachtstellung in Asien an Japan verlor, verbesserte die Situation nicht.
Um in der Bevölkerung den Rückhalt für Sozialisten und Anarchisten zu mindern und dem Unmut dennoch ein Ventil zu geben gestatteten die Behörden schließlich die Gründung christlichen-patriotischer Vereine, von denen eine von dem charismatischen Priester Georgi Apollonovich Gapon geführt wurde. So groß war die Hingabe zum Zar, dass Gapon und seine Gefolgsleute den Entschluss fassten, den Zar persönlich über die Missstände zu unterrichten, in der festen überzeugung, dass ihr Landesvater alles tun würde, um ihr Leid zu lindern, erführe er nur endlich davon. Trotz des behördlichen Verbots versammelten sich daher am 09. Januar 1905 die Arbeiter von St. Petersburg und machten sich auf den Weg zum Zar – im Sonntagsstaat, nüchtern unter Mitführung von Ikonen und dem Absingen kirchlicher Lieder. Die Pilgerreise endete im Kugelhagel. Ausländische Pressevertreter schätzen damals den Blutzoll auf etwa 4.600 Tote und Verwundete, gegenüber etwa 300 Opfern, von denen die Behörden sprachen.
Der Blutsonntag zog weitere Proteste nach sich, darunter die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin, der Sergei Eisenstein ein filmisches Denkmal setzte. Die Reaktion der russischen Behörden dagegen nahm das Ausmaß eines Bürgerkriegs an: unterstützt von rechten Organisationen, die die in Rußland lebenden Juden zum primären Ziel ihrer Gewaltorgie machten führten Polizei und Armee Krieg gegen die Bevölkerung. Zwischen Oktober 1905 und April 1906 wurden ungefähr 15.000 Arbeiter und Bauern aufgehängt oder erschossen, weitere 20.000 wurden verletzt und über 40.000 exiliert. In den Städten wurden 5.000 Todesurteile verhängt und 38.000 Menschen zu Gefängnis oder Zwangsarbeit verurteilt. Der Zar war erfreut.
Vater Gapon wurde 1906 ermordet; Zar Nikolaus II. zahlte 1918 den Preis für Blutdurst und Unterdrückung und wurde am 17. Juli mit seiner Familie erschossen, nachdem eine erfolgreiche Revolution seinem Regime ein Ende gesetzt hatte. Eine menschlichere Regierung erhielt das russische Volk dadurch nicht.