Habt Mitleid!
Sonntag, Juli 5th, 2009Das Tischtuch scheint zerschnitten zwischen der Internetgemeinde und einem großen Teil der politischen Klasse. Während die Politiker den Eindruck machen, sie verstünden überhaupt nicht, was eigentlich das Problem sei, fühlt sich die Generation Internet (mal wieder) missverstanden und von Kontroll- und Unterdrückungsfanatikern verfolgt. Dementsprechend herrscht eine Mischung aus Frustration und Wut vor und gerade die SPD, auf deren linkes Erbe die Internetgemeinde im Kampf gegen die Netzsperren gesetzt hatte bekommt diese Wut zu spüren. In Blogs und Foren wird sie als absolut unwählbar betrachtet und ihr jede Gefolgschaft aufgekündigt. So verständlich Zorn und Enttäuschung auch sind, so ungerecht sind diese Gefühle den Politikern gegenüber. Liebe Internetgemeinde – habt Mitleid mit unseren Politikern!
In der Diskussion um die Netzsperren wurde deutlich, dass die wenigsten Politiker verstanden haben, was im Internet in technischer wie politischer Hinsicht vor sich geht. Aber das wirklich tragische ist, dass das nicht das einzige ist, was unsere Politiker nicht verstehen. Tatsächlich verstehen sie die Welt nicht mehr.
Die wahrscheinlich einschneidendsten und damit bedeutendsten „Ereignisse“, die man verstehen muss, will man die Welt so wie sie jetzt ist verstehen, waren der Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er und der Siegeszug des Internets Mitte der 90er Jahre. Der Zusammenbruch des Ostblocks hat den stabilisierenden Antagonismus zwischen der Sowjetunion und den USA beendet und das Internet die weltweite Kommunikation und Information revolutioniert. Und welches Personal steht zur Verfügung, um mit den sich daraus ergebenden Problemen umzugehen?
Man kann wohl guten Gewissens davon ausgehen, dass der größte Teil der politischen Sozialisation eines Menschen im Alter von etwa 25 Jahren abgeschlossen ist. Auf der Basis dieser Erfahrungen wird er für den Rest seines Leben seine Urteile fällen. Das im Hinterkopf werfen wir nun einen Blick auf die Altersverteilung des Bundestages. 82,35% aller im deutschen Bundestag sind vor dem Jahr 1966 geboren. 97,55% sogar vor dem Jahr 1976. In welcher Welt sind diese Menschen aufgewachsen?
Um es kurz zu machen: In einer einfachen, übersichtlichen Welt. Die Außenpolitik wurde vornehmlich von den USA und der Sowjetunion bestimmt und die provinzielle Bonner Republik durfte sich darauf beschränken, hin und wieder die Rolle eines Vermittlers einzunehmen. Arbeitslosigkeit war kein nennenswertes Problem und sowohl die Renten, als auch das Gesundheitssystem wirkten sicher (zumindest, wenn man nicht zu genau hinsah und nicht genau hinsehen ist es, was einen Politiker ausmacht). Das einzige innenpolitische Problem waren die Wirrköpfe von der RAF und wenn man die Kommunikation der Bürger erschweren wollte, brauchte man sich nur an die Bundespost zu wenden, die Telefone und Briefverkehr kontrollierte. Welch Schlaraffenland!
Und die in dieser idyllischen Zeit aufgewachsenen Politiker, deren einzige ernste Sorge es war, dass eine der Supermächte einen Atomkrieg vom Zaun brach, sehen sich heute gezwungen, Politik in einer unübersichtlichen Welt zu gestalten. Statt zwei Supermächten, die in ihrer jeweiligen Einflusssphäre für Ordnung sorgen, ringen fünf Großmächte um Einfluss; Statt einer Handvoll verrückter Bombenleger wird die innere Sicherheit durch eine islamistische Todeskultur, durch zunehmende soziale Ungleichheit und durch das Erstarken politisch radikaler Kräfte bedroht. Und statt sich Briefe zu schreiben, schicken sich die Menschen Emails und kaufen sich auf der Straße Mobiltelefone, die kaum noch individuell zuzuordnen sind. Und da sollen unsere Politiker den überblick behalten? Keine Chance!
Und so ist es kein Wunder, dass der Bundesinnenminister (vielleicht auch geprägt durch seine eigenen Erfahrungen) hinter jedem Bart einen Terroristen vermutet und versucht, rein vorsorglich das ganze Volk zu unterdrücken; da ist es kein Wunder, dass unsere Bundeskanzlerin sich in Untätigkeit flüchtet und sich darauf beschränkt, medienwirksam aber bedeutungs- und folgenlos „wichtigen“ Politikern die Hände zu schütteln; da ist es kein Wunder, dass das Kabinett angesichts einer beachtlichen Finanz- und Wirtschaftskrise mit Geld um sich wirft, in dem sicheren Bewusstsein, dass sie längst tot sein werden, wenn dem Staat der finanzielle Kollaps droht; und so ist es schließlich auch kein Wunder, dass unsere Familienministerin lächerliche „Stopschilder“ einrichten lässt, die nicht einen einzigen Kindesmissbrauch verhindern können, aber ihr das Gefühl vermitteln, wenigstens irgendetwas getan zu haben.
Daher: Habt Mitleid mit unseren überforderten Politikern und helft ihnen, statt zu schmollen!
Nachtrag: Bei genauer Betrachtung wundert es mich nicht mehr, dass jede revolutionäre Bewegung von der Jugend getragen wurde.